Priesterschicksale
im Dritten Reich

Franz Lammerding - "Er sagte immer seine Meinung"


von Michael Rademacher




1. Kindheit und Jugend
Franz Wilhelm Lammerding wurde am 28. 1. 1899 in Brokstreek bei Essen in Oldenburg geboren. Sein Vater, Heinrich Lammerding, war Landwirt. Heinrich Lammerding war zweimal verheiratet und hatte aus erster Ehe eine Tochter.(1) Aus zweiter Ehe hatte er insgesamt zehn Kinder, darunter Franz, sowie drei weitere, die jedoch früh verstarben. Nach dem 1. Weltkrieg wanderten zwei Brüder in die USA aus, ein weiterer nach Brasilien. Letzterer kam jedoch zurück.

Franz Lammerding besuchte von 1911 bis 1914 die Bürgerschule in Essen.(2) 1914 wechselte er auf das Realgymnasium in Cloppenburg, wo er Ostern 1917 die Schlußprüfung bestand. Im Juni 1917 wurde er zum Heeresdienst bei den Goslaer Jägern eingezogen. Im April 1918 rückte er ins Feld und erlebte noch die letzten Kämpfe des 1. Weltkriegs mit. Am 18. September geriet er bei Epeky in englische Gefangenschaft, aus der er erst im September 1919 entlassen wurde.

Nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft kehrte Franz Lammerding nach Hause zurück und holte im Rahmen eines Sonderkursus für Kriegsteilnehmer am Gymnasium Antonianum in Vechta Ostern 1920 die Reifeprüfung nach. In seinem Antrag auf Zulassung zur Reifeprüfung vom 19. 12. 1919 gab er Theologie als beabsichtigtes Studium an.(3) Franz Lammerding erwies sich als insgesamt mittelmäßiger Schüler. Nur in Mathematik und in Religionslehre erhielt er ein 'gut', alle anderen Fächer waren 'genügend', d. h. gerade noch ausreichend.(4) Hingegen wurden sein 'Betragen und Fleiß' mit 'sehr gut' bewertet.

Von 1920 bis 1925 studierte Franz Lammerding an der Universität Münster Theologie und Philosophie. Während seiner Studienzeit wurde er Mitglied in der Studentenverbindung 'Unitas Frisia'. Am 7. 3. 1925 wurde er in Münster zum Priester geweiht.


2. Tätigkeit als Geistlicher und erster Konflikt mit dem NS-Regime
Nach seiner Priesterweihe wurde Franz Lammerding zunächst Vikar in Goldenstedt. 1927 wurde er Kaplan in Greffen, 1928 Kaplan in Holtwick. Ab 1936 war er Kaplan in Harsewinkel, einer Stadt, deren Einwohner zu ca. 95 % Katholiken waren.(5) Hier war er vor allem in der Jugendseelsorge tätig, was zu einem ersten Konflikt mit dem NS-Regime führte. Mit der 'Polizeiverordnung gegen die konfessionellen Jugendverbände' vom 23. 7. 1935 wurde die Jugendarbeit der Geistlichen auf das rein seelsorgliche beschränkt. Franz Lammerding hielt sich jedoch nicht daran. Seit Mitte November 1936 hielt er Heimabende ab. Dies war an sich nicht verboten, jedoch wurden

"in diesen Heimabenden nicht nur religiöse Vorträge gehalten und kirchliche Lieder gesungen, sondern darüber hinaus auch Vorträge weltlichen Inhalts gehalten. Auch wurden weltliche Lieder gesungen. Während der Fastnachtszeit wurden auch weltliche Vorträge lustiger Art gehalten. Auch wurden Heimspiele wie Blindekuh, Pfänderspiele und Geschicklichkeitsspiele gespielt."(6)

Franz Lammerding entging einer Verurteilung, da sich zunächst das Verfahren aufgrund der Erkrankung des zuständigen Sachbearbeiters der Staatsanwaltschaft verzögerte. Am 30. April 1938, nach dem Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich, wurde ein 'Gesetz über die Gewährung von Straffreiheit' erlassen, aufgrund dessen das Verfahren gegen Franz Lammerding am 10. Mai 1938 eingestellt wurde.(7) Eine Verurteilung zu "200.-- Reichsmark evtl. 20 Tage Gefängnis,"(8) wie sie der zuständige Staatsanwalt beantragen wollte, blieb ihm somit erspart. Am 12. 7. teilte die Staatspolizeileitstelle in Münster dem Landrat in Warendorf mit, daß das Verfahren gegen Franz Lammerding eingestellt wurde und bat ihn, "auch der Ortsgruppe der NSDAP in Harsewinkel von der Einstellung des Verfahrens Kenntnis zu geben."(9)


3. Gefängnishaft 1940
Mit Kriegsausbruch 1939 geriet Franz Lammerding erneut in Konflikt mit dem NS-Regime. In einem Gespräch mit Nachbarn äußerte er die Vermutung, daß nicht Polen den Krieg angefangen habe, sondern daß Deutschland und Rußland Polen überfallen hätten. "Man solle auch nicht alles für bare Münze nehmen, was die Goebbels-Propaganda von angeblichen polnischen Greueltaten zu berichten wisse."(10) Ein Nachbar, der zufällig mit dem Fahrrad vorbeifuhr, hörte einen Teil des Gespräches mit und erstattete Anzeige bei der Polizei.

Eine weitere Anzeige könnte aufgrund einer Hochzeitspredigt ergangen sein, in der er den Eheleuten ein langes und glückliches Zusammenleben wünschte, dann aber hinzufügte, "daß er nicht glaube, daß es dazu komme."(11) Diese Bemerkung verdarb angesichts des Kriegsausbruches natürlich der Hochzeitsgesellschaft die Stimmung. Es gibt jedoch keinen konkreten Hinweis darauf, daß ein Mitglied der Hochzeitsgesellschaft tatsächlich daraufhin Anzeige erstattete. Bei einer weiteren Gelegenheit äußerte er Zweifel, "ob Deutschland aufgrund seiner schlechten Rohstoff-Lager einen langjährigen Krieg würde durchhalten können."(12)

Die Sache ging an das Sondergericht Dortmund, wo im Oktober 1939 gegen ihn Anklage erhoben wurde, weil er "in hetzerischer Weise über den Kriegsausbruch gesprochen hat."(13) Die zuständige Kammer kam zur Verhandlung nach Warendorf. Der Staatsanwalt forderte 13 Monate Haft. Das Urteil, das am 28. 2. 1940 erging, lautete auf acht Monate Gefängnis und Übernahme der Kosten des Verfahrens wegen Vergehens gegen das 'Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniformen' vom 20. 12. 1934.(14)

Franz Lammerding verbüßte seine Strafe vom 15. 3. bis zum 15. 11. 1940 im Strafgefängnis Bochum.(15) In den acht Monaten seiner Haft nahm er über 30 Pfund ab und klebte über 1,5 Millionen Briefumschläge.(16) Insgesamt sei er dort

"an sich korrekt behandelt worden, wenn auch einige Aufseher weniger angenehm gewesen seien im täglichen Umgang. Ein Aufseher, der zur Heilsarmee zählte, ist ihm wegen seines gütigen Wesens noch heute in guter Erinnerung."(17)


Nachdem Franz Lammerding aus dem Gefängnis entlassen worden war, ordnete die Staatspolizeileitstelle der Gestapo in Münster am 7. 2. 1941 dem Landrat in Warendorf an, ihn "weiterhin vertraulich zu überwachen"(18) und Bericht zu erstatten, "sollte er erneut in Erscheinung treten."(19) Es kam jedoch zu keinen weiteren Konflikten zwischen Franz Lammerding und dem NS-Regime.


4. Weitere Tätigkeit als Geistlicher
Franz Lammerding blieb bis 1946 Vikar in Harsewinkel. Von 1946 bis 1952 war er Vikar in Südlohne. 1952 wurde er Pfarrer in Scharrel, wo er bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1974 blieb. Nach dem Ende des 2. Weltkriegs besuchte er seine Verwandten in den USA. Er lernte Englisch im Selbststudium nach der Methode Toussaint-Langenscheidt und las Shakespeare im Original.

1974, nach seiner Pensionierung, zog Franz Lammerding nach Barßel. Hier feierte er 1985 sein Diamantenes Priesterjubiläum. Pfarrer Bergmann hielt die Laudatio:

"Mit fester Stimme verkündete er das Wort Gottes und die Lehre der Kirche, 'sei sie gelegen oder ungelegen', so Pfarrer Bergmann. Er war und sei für die Gerechtigkeit. Dieses sei kennzeichnend für Lammerdings Leben gewesen. Wenn die Zigarre beim Skat dampfe, sei Pfarrer Lammerding in seinem Element. Auch liebe er die Gartenarbeit über alles, ein Gärtner mit Talar, Bibel und Barett. [...] Gottlose Systeme hätten jederzeit für alles eine Entschuldigung gehabt. Doch Pfarrer Lammerding hätte dies nie gelten lassen."(20)

Franz Lammerding war auch nach seiner Pensionierung noch in der Gemeinde St. Cosmas und Damian in Barßel als Seelsorger tätig. Er starb am 29. 8. 1987 in Barßel und wurde auf eigenen Wunsch in Scharrel beerdigt.


5. Zusammenfassung
Fragt man nach dem Grund, warum Franz Lammerding mit dem NS-Regime in Konflikt geriet, so läßt sich eindeutig sagen, daß dieser in seiner Persönlichkeit zu sehen ist. Franz Lammerding ist der einzige Geistliche, der in Harsewinkel Konflikte mit dem NS-Regime hatte. Trotzdem wurde er von den Nationalsozialisten nicht als gefährlich eingestuft, sonst wäre er ohne Zweifel im KZ Dachau inhaftiert worden. Franz Lammerding war einfach jemand, der "immer seine Meinung sagte."(21) Nach dem Krieg hatte er aus demselben Grund "Schwierigkeiten mit seinen Vorgesetzten."(22) Gerade angesichts des Kriegsausbruches wollte das NS-Regime jede Kritik unterdrücken. Deshalb war die Gefängnishaft für Franz Lammerding und andere eine Warnung, mit Kritik vorsichtig zu sein.


(1) Dies und das folgende nach einem Gedächtnisprotokoll von Markus Instinsky über ein Gespräch mit Frau Lammerding (Brokstreek bei Essen/Oldenburg), Ehefrau des Neffen von Franz Lammerding, vom 30. 3. 1994.
(2) Dies und das folgende nach dem Antrag Franz Lammerdings auf Zulassung zur Reifeprüfung vom 19. 12. 1919. Archiv des Gymnasiums Antonianum in Vechta.
(3) Ebda.
(4) Zeugnis über die Reifeprüfung Franz Lammerdings. Archiv des Gymnasiums Antonianum in Vechta.
(5) Genaue Zahlenangaben in: 1000 Jahre Harsewinkel. Zur Heimatgeschichte der Stadt an der Ems. Im Auftrage der Stadt Harsewinkel herausgegeben von Walter Werland. Münster, 1965. S. 300.
(6) Der Oberstaatsanwalt in Münster an den Reichsminister der Justiz in Berlin, 7. 2. 1938. Bundesarchiv, Abteilung Potsdam, Bestand Reichsjustizministerium IIIg1633138.
(7) Der Oberstaatsanwalt in Münster an den Reichsminister der Justiz in Berlin, 10. 5. 1938. Bundesarchiv, Abteilung Potsdam, Bestand Reichsjustizministerium IIIg1633138.
(8) Wie Anm. 6.
(9) Mitteilung der Staatspolizeileitstelle an den Landrat in Warendorf vom 12. 7. 1938. Stadtarchiv Harsewinkel, Akte C 108, Band 1.
(10) 'Kirche und Leben' vom 9. 3. 1975.
(11) Auskunft von Eckhard Möller vom Kulturamt der Stadt Harsewinkel vom 9. 12. 1992.
(12) 'Kirche und Leben' vom 3. 3. 1985.
(13) Staatsarchiv Münster, Regierung Münster, Monatsbericht Oktober 1939.
(14) Beglaubigte Abschrift der Urteilsformel. Stadtarchiv Harsewinkel, Akte C 108, Band 3.
(15) Einlieferungsanzeige des Strafgefängnisses Bochum vom 15. 3. 1940. Stadtarchiv Harsewinkel, Akte C 108, Band 3.
(16) 'Kirche und Leben' vom 3. 3. 1985.
(17) 'Kirche und Leben' vom 9. 3. 1975.
(18) Die Staatspolizeileitstelle in Münster an den Landrat in Warendorf, 7. 2. 1941. Stadtarchiv Harsewinkel, Akte C 108, Band 3.
(19) Ebda.
(20) 'Neue Osnabrücker Zeitung' vom 6. 3. 1985.
(21) Wie Anm. 1.
(22) Ebda.


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